Chana Orloff
Grande Baigneuse Accroupie, 1925; 2000 (posthumer Guss)
Dank der monografischen Ausstellung im Pariser Musée Zadkine 2023 wurde Chana Orloff (1888 Tsaré-Konstantinovka, Ukraine – 1968 Tel Aviv, Israel) als eine der herausragenden Bildhauerinnen der Moderne wiederentdeckt. Ihr Leben war von vielen Schicksalsschlägen geprägt, was sie jedoch nicht daran hinderte, in den 1920er-Jahren zu einer der angesehensten Kunstschaffenden der sogenannten «École de Paris» aufzusteigen und nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Berühmtheit zu erlangen. Ihre in der Ukraine, damals Teil des russischen Zarenreichs, sesshafte jüdische Familie war 1905 aufgrund der antisemitischen Pogrome gezwungen, das Land zu verlassen und liess sich Anfang 1906 in Palästina nieder. Es war ihr Beruf als Schneiderin, der Orloff 1910 nach Paris übersiedeln liess, doch ihr zeichnerisches Talent ebnete ihr rasch den Weg zu einer künstlerischen Laufbahn. Nach einem dreijährigen Studium an der École des arts décoratifs bildete sie sich autodidaktisch auf dem Gebiet der Bildhauerei aus. In dieser Zeit verkehrte sie besonders mit Georges Braque, Fernand Léger, Amedeo Modigliani, Pablo Picasso, Chaïm Soutine, Suzanne Valadon, Marie Vassilieff und Ossip Zadkine. Anfang der zwanziger Jahre avancierte Orloff zu einer der gefragtesten Kunstschaffenden, die sich auf skulpturale Porträts der Pariser Elite spezialisierte. Sie feierte zahlreiche Ausstellungserfolge und erlangte internationales Renommee. 1931 präsentierte das Kunsthaus Zürich zwei ihrer Figuren in der Überblicksausstellung «Plastik – Internationale Ausstellung». Während des Zweiten Weltkriegs lebte Orloff im Exil in Genf, wo sie auf ihre Freunde Alberto Giacometti und Germaine Richier traf. Ein neuer Lebensabschnitt begann, als sie 1948 nach Tel Aviv übersiedelte. 1 Obschon sie dort als gefeierte Künstlerin 1968 verstarb, geriet sie alsbald in Vergessenheit – eine Rezeptionsgeschichte, die Orloff mit vielen Künstlerinnen ihrer Generation teilt.
Zu Orloffs Repertoire gehören neben Porträts auch Akte und Tierdarstellungen sowie Themen zur Mutterschaft und zum Tanz. Ihre 1925 entworfene «Grande baigneuse accroupie» (auch «Femme accroupie» genannt) zählt zu ihren Hauptwerken und steht exemplarisch für ihren unverwechselbaren Stil der 1920er-Jahre. Dieser zeichnet sich durch einen hohen Stilisierungsgrad, eine Vereinfachung der Formen und glatt polierte Oberflächen aus. Das Motiv einer kauernden Frau beim Bade geht zurück auf die berühmte Aphrodite von Doidalses, einem der bedeutendsten Plastiker des antiken Griechenlands. Im Frankreich des 19. Jahrhunderts erlebte das Sujet dank akademisch arbeitenden Bildhauern wie Jules Dalou ein Wiederaufleben. Um 1900 setzten sich aber auch Kunstschaffende, die sich von der herkömmlichen Formensprache in der Plastik abwandten, damit auseinander, etwa Auguste Rodin, Aristide Maillol und Henri Matisse.
Mit ihrer «Grande baigneuse accroupie» schreibt sich Orloff motivisch in diese Tradition mit ein, stilistisch wendet sie sich jedoch gänzlich von ihr ab. Ihr hockender weiblicher Akt präsentiert sich uns als kompakte statische Figur ohne Binnenräume – gleichsam eines hieratischen Blocks. Obschon die Statue in sich ruht, geschieht viel an Bewegung, hauptsächlich, wenn man sie von ihrer linken Seite her betrachtet: Horizontale Elemente (linker Arm, rechte Hand und linker Oberschenkel) unterbrechen die vertikalen Achsen (Oberkörper, rechtes angewinkeltes Bein und Kopf) und erzeugen dadurch eine Dynamik in der Figur. Dieses bewegte Spiel von Linien und Formen findet man ebenfalls auf der rechten Seite wieder, wo ein über den rechten Arm geschlagenes Tuch Falten wirft. Die Augenpartie ist nur minimal bearbeitet, was der Figur einen vergeistigten Ausdruck verleiht.
Orloff fertigte von der Plastik zunächst eine kleine Fassungan, die sie 1925 als Zementguss im Pariser Salon d’automne ausstellte. 1939 vergrösserte die Künstlerin sie und verkaufte ein Exemplar an den französischen Staat. 2 Die von der Vereinigung Zürcher Kunstfreunde aus dem Nachlass der Künstlerin erworbene Bronze wurde posthum im Jahr 2000 als Nummer 7 einer 8er-Auflage in der renommierten Giesserei Susse hergestellt. Sie ergänzt aufs Beste den Bestand von Plastiken der Klassischen Moderne im Kunsthaus Zürich.
1 Paula Birnbaum, Sculpting a Life. Chana Orloff Between Paris and Tel Aviv, Waltham
(MA) 2022; Chana Orloff. Sculpter l’époque, Ausst.-Kat. Musée Zadkine, hrsg. von Cécilie Champy-Vinas und Pauline Créteur, Paris, Paris 2023.
2 Centre Pompidou, Paris, Musée national d'art moderne / Centre de création industrielle,
Depositum in La Piscine – Musée d'art et d'industrie André Diligent (Roubaix).