Alberto Giacometti
Composition surréaliste II, 1935
Beeinflusst von Sigmund Freuds Psychoanalyse sollten Literatur und Kunst nach Auffassung der Surrealisten neu aus dem Unbewussten kreiert werden. Das filternde Bewusstsein sollte möglichst ausgeschaltet werden, um alles, was tief im Menschen schlummert (und sei es auch dunkel und bedrohlich) Gestalt werden zu lassen. 1930 wurde der junge Alberto Giacometti (1901 Borgonovo – 1966 Chur) von André Breton und Salvador Dalí eingeladen, zur Gruppe der Surrealisten zu stossen. Die hier vorgestellte Zeichnung gehört bereits in die zweite Hälfte von Giacomettis surrealistische Phase, die 1935 zu einem Ende kam, als Giacometti, der sich wieder dem bei den Surrealisten verpönten Arbeiten nach dem Modell zuwenden wollte, aus der Gruppe ausgeschlossen wurde.
Die vorliegende Zeichnung gelangte im Berichtsjahr als Geschenk der Erbengemeinschaft Eberhard W. Kornfeld an die Alberto Giacometti-Stiftung.1 Kornfeld war seit den 1950er-Jahren freundschaftlich mit Giacometti verbunden gewesen. Das Blatt ist vom Künstler signiert und auf 1935 datiert. Es zeigt ein figurenartiges Arrangement verschiedenartiger Formen, das mit den sogenannten «cadavres exquis» verwandt zu sein scheint. 2 Anders als diese präsentiert sie sich aber in Form einer imaginären Skulptur. Diese basiert auf einer möbelartigen Konstruktion und entwickelt oben Teile einer Figur, die aus einem eckig wirkenden Oberkörper heraus agiert. Selber Teil einer Skulptur, hält sie mit traumartig geschlossenen Augen ein skulpturales Objekt. Die Figur wird rechts mit einer flächigen hellen Form kombiniert, die über eine gezackte Linie mit dem intensiv schraffierten dunklen Hintergrund interagiert. Belebt durch die reiche Struktur von Schraffuren und Linien entsteht insgesamt ein «neuartiger ‹lunarer› Raum aus Licht und Schatten» (Agnes de la Beaumelle), wie eine reale Skulptur ihn nicht erzeugen könnte. 3
Mit den schnell hingesetzten Linien und Schraffuren solcher Zeichnungen konnte Giacometti (wie neben ihm auch Picasso es tat) imaginäre Skulpturen kreieren, die plausibel vor uns stehen, aber von einer allzu illusionistischen Realisation bewahrt bleiben. Aufgrund dieses traumartig-mentalen Charakters der hier vorliegenden Komposition (auf der die von Giacometti evozierte «Figur» selbst «wie im Traum agiert») konnte der surrealistischen Forderung nach einem Entstehen des Kunstwerks aus dem Unbewussten glaubhaft entsprochen werden.
Zusammen mit einem Bronzeguss von Giacomettis legendärer Skulptur «Objet invisible» von 1934, der 2025 ins Kunsthaus kommen wird, bedeutet diese wichtige Zeichnung eine spektakuläre Bereicherung des im Kunsthaus Zürich aufbewahrten surrealistischen Schaffens Alberto Giacomettis. 4
1 Die Zeichnung ist dokumentiert in der Alberto Giacometti Database unter der Nummer
AGD 3816, www.fondation-giacometti.fr/fr/database/187021/composition-surrealiste-ii (abgerufen 3.3.2025). Dort sind auch die Literatur und die Ausstellungsgeschichte dokumentiert. Die Datierung 1935 ist ebenfalls vermerkt. Eine bis auf Details weitgehend übereinstimmende andere Fassung Giacomettis dieser Komposition, «Composition surréaliste», gehört der Fondation Giacometti, Paris. Dieses Blatt wird in der erwähnten Giacometti Database unter Nummer AGD 193 dokumentiert. Es ist nicht signiert und datiert, wird aber auf «um 1933» datiert, und somit zwei Jahre früher angesetzt als das vom Künstler selber auf 1935 datierte Blatt der Giacometti-Stiftung. Unklar bleibt somit, ob Giacometti das signierte Blatt nicht korrekt datierte, oder ob das Pariser Blatt allenfalls zeitlich näher am Blatt der Pariser Stiftung entstanden sein könnte. Insgesamt scheint allerdings die Datierung um 1933 für den Geist dieser Kompositionen gut zu passen.
Siehe auch «Giacometti», Ausst.-Kat Tate, London 2017, S. 44 (Text von Mathilde Lecuyer).
2 Der «cadavre exquis» ist ein spielerisches surrealistisches Konzept, das bis heute auch
bei Kindern beliebt ist. Es beruht darauf, durch das jeweilige Falten eines Blatt Papiers
fremdartige Figuren zu bilden, die aus jeweils nicht zusammenpassenden, reihum
von verschiedenen Teilnehmenden gebildeten Köpfen, Rümpfen und Beinen bestehen.
3 Alberto Giacometti, le dessin à l’œuvre, sous la direction d’Agnès de la Beaumelle,
Ausst.-Kat. Centre Pompidou, Paris 2001, S. 225, Nr. 61.
4 Dieser Guss entsteht unter Verwendung des originalen Gipsmodells aufgrund einer
Vereinbarung der drei Rechteinhaber Alberto Giacomettis und wird der Alberto
Giacometti-Stiftung zur Platzierung als Dauerdepositum im Kunsthaus Zürich anvertraut.
Dieses Hauptwerk Giacomettis war bisher in der Schweiz nicht vertreten.