Das Jahr 2023 begann für die Sammlung des Kunsthauses sehr anspruchsvoll, brachte aber zugleich auch einen belebenden Neubeginn, war es doch das erste volle Amtsjahr der neuen Direktorin Ann Demeester. In den ersten Monaten des Berichtsjahres wurde das Sammlungs-Team von Restaurierung und Art Handling noch stark durch die Beseitigung der Folgen des Brandes in Atem gehalten, der im August 2022 in einem technischen Raum des Müller-Baus ausgebrochen war. Die Räume im Bestand waren lange geschlossen, insgesamt 618 Werke im Müller- und im Moser-Bau mussten gereinigt werden, im Berichtsjahr waren es noch 176. Ende März 2023 konnte der Bestand endlich wieder vollständig geöffnet werden. Zum grossen Glück fielen dem Brand keine Werke zum Opfer und alle konnten wieder gut gereinigt werden. Leider wurden aber während der Zeit der Brandbehebung zwei kostbare und einzigartige niederländische Altmeisterbilder – eines von Dirck de Bray und eines von Robert van den Hoecke – aus den Beständen einer privaten, langfristig im Kunsthaus deponierten Sammlung entwendet und sind bis zum Redaktionsschluss dieses Berichts nicht wiederaufgetaucht. Die Polizei nahm Ermittlungen auf und das Kunsthaus lobte einen Finderlohn aus. Wir hoffen von Herzen, dass sie bald wieder zurückkehren und unser ganzes Haus und seine Mitglieder und Besuchenden, aber vor allem auch den geschätzten Sammler und seine Familie, wieder mit ihrer Anwesenheit erfreuen werden.
PROJEKTE IN DER SAMMLUNG: RECOLLECT!
Kaum war das Haus wieder offen, konnte das wichtige Sammlungsprojekt «ReCollect!», über das auf Ausstellungen berichtet wird, an die Hand genommen und umgesetzt werden. Es beruht auf der Idee, dass Künstlerinnen und Künstler nicht nur die Gabe haben, Kunst zu produzieren, sondern dass sie auch als Kuratorinnen und Kuratoren Bedeutendes und Kreatives leisten und neue Wege beschreiten. Das Projekt basiert entsprechend darauf, dass ausgewählte Künstlerinnen und Künstler in Absprache mit Kuratorium und Direktion Werke aus der Sammlung auswählen und aus diesen unter Einbeziehung eigener Werke eine Sammlungsausstellung auf Zeit realisieren.
Damit wurde ein Konzept, das 2021 im Jahr der Eröffnung des Erweiterungsbaus lanciert worden war, auf einer anderen Ebene weitergeführt und bereichert. 2021 waren an verschiedenen Orten in den Sammlungsbereichen sogenannte «Interventionsräume» definiert worden, in denen – bewusst kontrastierend zur traditionell bewährten Präsentation der geschlossenen Sammlungsbestände – wechselnde Präsentationen von Werken und Werkgruppen der Sammlung (vor allem der Gegenwartskunst) gezeigt wurden, die mit den sie umgebenden, permanent gezeigten Beständen kontrastieren sollten. Wurden diese Räume in den ersten anderthalb Jahren noch von Kuratorin Mirjam Varadinis kuratiert, erfolgte die Erstbespielung der Räume von «ReCollect!» jetzt, im Gespräch mit ihr und der Direktorin, durch Künstlerinnen und Künstler. – Zurück zu den Wurzeln? Schliesslich bestand im Jahr 1787 der erste Schritt zur Gründung unseres Trägervereins darin, dass Künstler und Kunstliebhaber zur «Zürcher Künstlergesellschaft» zusammenfanden. Das Kuratieren von Ausstellungen und Werkpräsentationen in Museen durch Künstlerinnen und Künstler hat eine lange Vorgeschichte, nicht zuletzt in England. Auch im Kunsthaus war die künstlerische Präsenz beim Kuratieren schon früher wichtig. Zu nennen ist hier das langjährige Wirken des Künstlers und Kunstpolitikers Sigismund Righini (1870 – 1937) im Kunsthaus. Von 1897 bis 1902 war dieser qualitätvolle Maler und Zeichner Präsident der neu gegründeten Künstlervereinigung Zürich. 1899 wurde er in die Ausstellungskommission der Zürcher Kunstgesellschaft gewählt, 1912 dann in deren Vorstand (wobei er zusätzlich und für zwei Jahre Präsident der Sammlungskommission wurde). In unserem Kontext besonders interessant: Righini amtete zugleich lange Jahre auch als eine Art Kurator des Kunsthauses, der in Absprache mit Direktor Wilhelm Wartmann viele Hängungen von Ausstellungen und Sammlungspräsentationen durchführte. Fazit: Künstler waren im Kunsthaus schon früher präsent und kuratierend tätig (erinnert sei etwa auch an die von Peter Fischli betreute Ausstellung zu Ferdinand Hodler und Jean-Frédéric Schnyder im Jahr 2014), jetzt sind sie einmal mehr wieder dabei. Und nun endlich auch die Künstlerinnen!
NEUZUGÄNGE
Kommen wir nun zu den Neuzugängen: Wie ein Blick in die Neuzugänge der eigenen Sammlung, aber auch bei den Deposita der Kunstfreunde Zürich (VZK) und der Alberto Giacometti-Stiftung (dort u. a. die schöne Schenkung einer Druckgrafik samt Zeichnung Alberto Giacomettis an die Giacometti-Stiftung) zeigt, war das Berichtsjahr diesbezüglich – und dies über alle Gattungen und Epochen hinweg – aussergewöhnlich reich. Und es durften besonders viele schöne Geschenke empfangen werden, für die hier herzlich gedankt sei. Einige besonders wichtige Bereicherungen der Sammlung (inklusive Grafische Sammlung) sind im Bildteil (Abbildungen) abgebildet und zum Teil besprochen. Man beachte auch den Bericht zur Grafischen Sammlung (Grafische Sammlung).
Erwähnt sei hier ein besonderer Ankauf: Das Kunsthaus hatte 2019 seitens der Dr. Joseph Scholz Stiftung die Mittel erhalten, um ein von der Stiftung vorgeschlagenes Landschaftsbild mit zwei Figuren, gemalt in Öl auf Leinwand, zu erwerben. Das als «Abendlandschaft mit Figurenpaar» betitelte Gemälde ist unsigniert und wurde dem italienischen Renaissance-Maler Tiziano Vecellio zugeschrieben. In der Folge wurde diese Zuschreibung seitens der Medien verschiedentlich infrage gestellt. Als im Frühjahr 2023 in einer Auktion eine zweite, auf Leinwand gemalte Fassung der gleichen Komposition auftauchte, wurde beschlossen, diese mit Mitteln aus dem Ankaufsfonds des Kunsthauses zu erwerben (Abbildungen). Dies mit dem Ziel, beide Werke einer vertieften kunsttechnologischen und kunsthistorischen Untersuchung zu unterziehen und damit soweit wie möglich klären zu können, wann und vielleicht wo die beiden Werke entstanden sind, wer das eine Bild gemalt hat und wer das andere, und wie die beiden Werke zueinander in Beziehung stehen.
Im Übrigen beschränken wir uns hier auf die Schenkungen und Vermächtnisse und verweisen für alles Weitere auf die Listen der Neuzugänge in diesem Jahresbericht sowie auf den Bildteil.
Erwähnt sei Rudolf Kollers monumentales Gemälde «Drei Faune mit Kuh und Kalb» von 1900, eine Schenkung der Familie Johannes B. Niggli. Es handelt sich um ein Werk von fast fellinesker Qualität, das Koller im ihm sonst fremden (eher Böcklin‘schen) Feld des Mythischen zeigt. Eine prächtige Landschaft von Hodler, «Baum am Brienzersee vom Bödeli aus», 1906, ergänzt unsere schon reiche Hodler-Sammlung um eine wichtige Nuance.
Ein Höhepunkt sodann auch – das Vermächtnis von Alice Düblin – drei Werke der bedeutenden schweizerischen abstrakten Expressionistin Sonja Sekula. Helen Grob, langjährige Lebensgefährtin von Ernst Scheidegger, schenkte drei schöne Gemälde und eine Fotocollage Scheideggers (siehe auch (Ernst Scheidegger, Kriegsende). Die Freundinnen und Freunde der Kunsthalle Zürich warteten schliesslich mit dem bedeutenden Geschenk von Liz Larners «Asteroid (V. Woolf)» von 2020 auf. Allen grosszügigen Schenkern und Schenkerinnen sei herzlich gedankt.
LEIHWESEN
Und hier noch wie gewohnt die Angaben zur Leihstatistik: 2023 wurden 66 Ausstellungen bedient, davon 44 im Inland und 22 im Ausland. Aus der Sammlung der Zürcher Kunstgesellschaft wurden 54 Gemälde und Skulpturen ausgeliehen. Aus der Sammlung der Alberto Giacometti-Stiftung wurden 13 Gemälde und Skulpturen und 10 Werke auf Papier ausgeliehen. Zudem wurden aus weiteren, im Kunsthaus deponierten privaten Sammlungsbeständen die Ausleihungen von 23 Werken bearbeitet.
DIGILAB
Das Kunsthaus-Digilab ist als Ergänzung zum physischen Museumsraum gedacht und soll den digitalen Raum ausleuchten und neu bespielen. Es bietet Raum zum Experimentieren, Ausprobieren und kritischen Nachdenken über das Digitale. Zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler werden eingeladen, in regelmässigen Abständen neue Kunstwerke zu realisieren, die einerseits online präsent, aber auch physisch im Museumsraum erfahrbar sind. Im Berichtsjahr wurde James Bridle (*1980) dafür eingeladen. Der britische Künstler, Schriftsteller und Denker beschäftigt sich in seiner Arbeit seit Längerem mit dem Einfluss neuer Technologien auf Politik, Kultur und Gesellschaft. In dem für das Kunsthaus realisierten Werk «The Distractor» (2023) stellt Bridle einen Schlüsselmoment in der Mediengeschichte nach. In den 1960er-Jahren erkannten Forscher in den Vereinigten Staaten, dass mehr Kinder Zugang zum Fernsehen als zu Kindergärten hatten, und sie machten sich daran, dieses neue Instrument zu nutzen, um eine Lücke in der frühkindlichen Bildung zu schliessen. Im Jahr 1968 gründeten sie den Children's Television Workshop (CTW), um pädagogische Fernsehprogramme für Kleinkinder zu erforschen und zu entwickeln. Die erste und bekannteste Kreation des CTW war die Sesamstrasse, eine der am längsten laufenden Fernsehsendungen der Welt.
Die von CTW in den 1960er- und 1970er-Jahren durchgeführten Untersuchungen legten den Grundstein für bildschirmgestützte Bildungsprogramme auf der ganzen Welt. Gleichzeitig wurden damit technologische Lösungen über soziale gestellt, und Bildung wurde auf Bildschirme und Unternehmen ausgelagert. Heute werden Techniken, die von Pädagogen in den 1960er-Jahren entwickelt wurden, in automatisierten Systemen wie mobilen Apps und sozialen Medien eingesetzt und ermöglichen die globale «Aufmerksamkeitsökonomie», in der die menschliche Aufmerksamkeit als eine Ressource behandelt wird, die es einzufangen und auszubeuten gilt.
PROVENIENZFORSCHUNG: NEUE STRATEGIE UND TEAM
Im März konnte die neue Strategie für die Provenienzforschung und für deren Ergebnisse vom Vorstand der Zürcher Kunstgesellschaft und der Geschäftsleitung des Kunsthaus Zürich verabschiedet werden. Die Strategie umfasst u. a. die konsequente Überprüfung von Neuzugängen und Leihgaben, einen transparenten und lösungsorientierten Umgang mit Verkäufen ausserhalb des NS-Machtbereichs sowie ein proaktives Vorgehen bei Verdacht auf NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut und nach Klärung spezifischer Sachverhalte ein dezidiertes Handeln. Umgesetzt wird die Strategie durch den Aufbau eines eigenen Fachbereichs Provenienzforschung. Unter anderem dank der finanziellen Unterstützung durch den Kulturfonds des Kantons Zürich und der Projektförderung des Bundesamts für Kultur (BAK) konnte die Provenienzforschung ab Mitte Jahr zu einem 5-köpfigen Team erweitert werden (Leitung, zwei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und zwei wissenschaftliche Assistenzen).
Das seit 2021 laufende Forschungsprojekt «Die Provenienzen der Schenkungen Leopold Ruzicka (1949), Nelly Bär (1968) & Walter Haefner (1973 – 1995)» mit Förderung vom BAK konnte im Sommer des Berichtsjahrs erfolgreich abgeschlossen werden. Im Sinne der Transparenz wurden die Forschungsergebnisse bei den untersuchten, permanent ausgestellten Werken in den Sammlungsräumen anhand von Provenienzschildern mit kurzen kontextualisierenden Werktexten sichtbar gemacht. Im Juni des Berichtjahrs konnte wiederum mit Förderung vom BAK ein neues, auf ein Jahr angelegtes Forschungsprojekt begonnen werden, welches die Zugänge in die Sammlung Gemälde und Skulpturen zwischen 1946 und 1960 umfasst. Dafür, wie auch für weitere zentrale Objekte, wurden im Berichtsjahr in Zusammenarbeit mit der Restaurierung und dem Art Handling zahlreiche Reproduktionen von Werkrückseiten erstellt, die essenziell als Grundlage für die Objektanalyse sind.
Im Berichtsjahr wurden zudem an der fortlaufenden Aktualisierung und Publikation der Provenienzen der Sammlungsbestände auf der Sammlung Online gearbeitet sowie zeitgleich mit der Eröffnung der neuen Bührle-Ausstellung im November in den Sammlungsräumen bei den zurzeit in Tiefenrecherche befindlichen Werke neue Provenienzschilder angebracht, die anhand der Provenienzkategorien des Kunstmuseums Bern (Berner Ampel, 2021) eingestuft sind.
Zur neuen Ausstellung der Sammlung Emil Bührle, worin das Team Provenienzforschung tatkräftig involviert war, lesen sie mehr auf Ausstellungen. Zahlreiche externe Anfragen zu den Sammlungsbeständen wie zur Sammlung Emil Bührle wurden bearbeitet, wie auch an nationalen und internationalen Tagungen teilgenommen, wie etwa an den Arbeitstreffen des internationalen und des Schweizerischen Arbeitskreises Provenienzforschung, zu deren Mitglieder mehrere Mitarbeitende des Teams am Kunsthaus auch gehören.