Ausstellungen

 

Füssli. Mode – Fetisch – Fantasie

Sechzehn Jahre nach der letzten grossen Retrospektive zu Johann Heinrich Füssli («Füssli – The Wild Swiss», 14.10.05 – 8.01.06) war es an der Zeit, diesen Schweizer Ausnahmekünstler (1741 – 1825) erneut in seiner Geburtsstadt zu würdigen. Diesmal allerdings mit einem besonderen Fokus auf die Technik, indem ausschliesslich Zeichnungen zu sehen waren, sowie auf das verhandelte Sujet: Füsslis geradezu obsessive Beschäftigung mit der modisch gekleideten Frau seiner Epoche.

Die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Frauenbild hat sich massgeblich in seinen Zeichnungen abgespielt: Darin schildert er das weibliche Gegenüber hocherotisiert, in eleganter Gewandung und mit Frisuren, die exzentrischer kaum sein könnten. Wir begegnen der modernen Frau in diesen Arbeiten als Figur des Geheimnisses und der starken Anziehungskraft, wobei aus nahezu sämtlichen Werken eine Mischung aus Faszination und Unbehagen seitens des Künstlers spricht. Beredt sind in diesem Zusammenhang auch Füsslis Wunschprojektionen kraftstrotzender Männerakte, denen hier das Bild von gebieterisch und unnahbar auftretenden Frauen gegenübersteht.

Auch wenn wir den Darstellungen durch Querverweise auf die zeitgenössische Mode ihren kulturgeschichtlichen Ort zurückgaben, war es nicht das Ziel der Ausstellung, die den Zeichnungen inhärente psychische Spannung zu negieren, im Gegenteil: Füsslis ambivalente Faszination für die weibliche Sexualität eröffnete dem Publikum einen weitreichenden Blick auf die Ängste des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Bezug auf Geschlecht, Macht und Identität.

Die Ausstellung entstand in Kooperation mit The Courtauld, London, wurde von David H. Solkin entwickelt und leicht abgewandelt in Zürich präsentiert. Die deutsche Ausgabe des begleitenden Katalogs erschien im Verlag Scheidegger & Spiess, die englische Ausgabe bei Paul Holberton Publishing, London.

Unterstützt von der Elisabeth Weber-Stiftung, der Boston Consulting Group sowie von Albers & Co AG. Der Katalog wurde unterstützt von der Wolfgang Ratjen Stiftung, Vaduz.

Jonas Beyer, Kurator

 

VIDEOS AUS DER SAMMLUNG: HANNAH WEINBERGER

Das Kunsthaus Zürich besitzt eine der wichtigsten Medienkunstsammlungen in der Schweiz. Die Sammlung umfasst über 600 Werke seit den 1970er-Jahren bis heute. Dazu gehören sowohl Single-Channel-Videos wie auch Installationen und digitale Kunstwerke.

Im Frühjahr bot sich die Möglichkeit, eine raumumfassende Installation der jungen Schweizer Künstlerin Hannah Weinberger (*1988 in Filderstadt) im Kabinett zu zeigen. Die unbetitelte Arbeit kam 2017 als Geschenk der Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung in die Sammlung. Die Stiftung hatte die Künstlerin im Jahr zuvor mit dem Guggenheim-Kunstpreis ausgezeichnet.

Hannah Weinberger schafft mit ihren Sound- und Video­installationen immersive Erfahrungsräume. Ihre Filme entstehen jeweils als persönliche Momentaufnahmen auf Reisen und werden von der Künstlerin meist mit ihrem eigenen Handy festgehalten. Die bewegten Bilder fügen sich über mehrere Kanäle zu einer assoziativ verdichteten Gesamtkomposition zusammen und geben ein stimmungsvolles Porträt unserer heutigen Zeit wieder.

Hannah Weinberger lebt und arbeitet in Basel. Sie studierte an der Zürcher Hochschule der Künste, wo sie 2013 mit einem Master of Fine Arts (Vertiefung Mediale Künste) abschloss.

Mirjam Varadinis

 

RE-ORIENTATIONS. EUROPA UND DIE ISLAMISCHEN KÜNSTE, 1851 BIS HEUTE

Die Ausstellung «Re-Orientations. Europa und die islamischen Künste» veranschaulichte die Bedeutung der islamisch geprägten Kulturen für die bildenden und angewandten Künste in Europa. Der Islam ist seit Langem Teil der europäischen Kultur und hat sich daher auch im Werk zahlreicher Kunstschaffender Europas niedergeschlagen. Die Schau nahm eine Form der Rezeption der islamischen Welt ins Blickfeld, die als «Islamophilie» bezeichnet wird. Den Anfang machten Gelehrte und Sammlerinnen, die sich für die islamischen Künste begeisterten. In der Folge übertrug sich die Faszination auf Kunstschaffende. Diese Islamophilie wurde in der Ausstellung als Phänomen eines transkulturellen Prozesses verstanden – ein Prozess, der zu einer kulturellen Vielfalt führt, die ihrerseits von Überschneidungen und Unterschieden geprägt ist.

Nach einem Symposium 2020 in Zürich erarbeitete Kunsthaus-Kuratorin Sandra Gianfreda die Ausstellung, begleitet von einem wissenschaftlichen Beirat, im Austausch mit zahlreichen Fachleuten. Die spannenden Ergebnisse wurden in einem umfangreichen Katalog festgehalten, der im Hirmer Verlag erschienen ist. Die Ausstellung war eine exklusive Eigenproduktion des Kunsthaus Zürich. Der Fokus lag auf dem Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Für jede Epoche wurden beispielhafte künstlerische Positionen ausgewählt. Die Ausstellung gliederte sich in sechs thematische Bereiche: 1. «Die Wiederentdeckung des ‹Orients›» mit Fokus auf der Bedeutung des Ornaments; 2. «Orientalismus – Zwischen Sehnsucht und Stereotypen» mit Fokus auf unbekannte Facetten des Orientalismus; 3. «Sammlungen im Fokus» mit fünf historischen Sammlungen aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz und aus Portugal; sie stellten die ästhetische Vielfalt der islamischen Künste vor; 4. «Keramik und Glas» sowie «Textil- und Möbeldesign» mit fünf Meistern der Angewandten Kunst aus Frankreich, Grossbritannien, Italien, Österreich und Spanien; 5. die Klassische Moderne vertreten durch Henri Matisse, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Paul Klee und Lotte Reiniger; 6. die Gegenwartskunst mit Werken von Anila Quayyum Agha, Nevin Aladag, Baltensperger + Siepert, Marwan Bassiouni, Gülsün Karamustafa, Bouchra Khalili sowie einer eigens für die Ausstellung kreierten Tonarbeit von Clara Laila Abid Alsstar und Muhammet Ali Bas. Auf einem offen angelegten, farbenprächtigen und transhistorisch angelegten Rundgang konnten die Besuchenden rund 170 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde und Fotografien, Objekte aus Metall, Keramik und Glas sowie Textilien, Videos, Installationen und einen Animationsfilm bestaunen.

Zum Begleitprogramm gehörten Artist Talks mit Nacer Khemir und Parastou Forouhar, ein Talk zum Thema «Cultural Appropriation or Appreciation?» und eine dialogische Führung zum Thema «Out of the Box». Zwei Episoden des Podcasts «IslamicMediaClub» sowie eine mit dem Kino Arthouse organisierte Filmreihe rundeten das kuratorische Vermittlungsprogramm ab.

Unterstützt von der Roswitha Haftmann-Stiftung.

Sandra Gianfreda, Kuratorin

 

GIACOMETTI – DALÍ. TRAUMGÄRTEN

Im Mittelpunkt dieser Ausstellung stand die Zusammenarbeit Alberto Giacomettis (1901 – 1966) und Salvador Dalís (1904 – 1989) rund um die Schaffung eines imaginären Gartens in den frühen 1930er-Jahren. Dalí hatte sich 1930 in einer Pariser Ausstellung für eine neuartige Skulptur Alberto Giacomettis begeistert, die legendäre «Boule suspendue». Es folgte die Aufnahme Giacomettis in die surrealistische Gruppe um André Breton. Giacometti freundete sich in der Folge mit Dalí an, mit dem er in den frühen 1930er-Jahren einen fruchtbaren künstlerischen Dialog führte. Dieser wurde in dieser Ausstellung (Szenographie Ulrich Zickler) erstmals gewürdigt.

Dalí und Giacometti trafen sich im Kreis von Charles und Marie-Laure de Noailles, einem avantgardistischen Mäzenen- und Sammlerpaar. Sie imaginierten beide surreale Orte und planten Garten- und Platzanlagen. Um den Austausch zwischen ihnen zu dokumentieren, vereinigte die Ausstellung Gemälde und Zeichnungen Dalís und Skulpturen und Zeichnungen Giacomettis. Zentrales Element der Ausstellung war die erstmals in Originalgrösse rekonstruierte Platzskulptur Giacomettis, «Projet pour une place» (um 1932), die vor dem Hintergrund des intensiven künstlerischen Austauschs mit Dalí zu sehen ist.

Die Ausstellung wurde von der Pariser Fondation Giaco­metti konzipiert. Nach einer ersten Station im Institut Giacometti in Paris konnte sie in Zürich in deutlich vergrösserter Fassung gezeigt werden. Dabei konnte die umfangreiche Gruppe surrealistischer Skulpturen und Objekte Giacomettis aus dem Eigentum der Alberto Giacometti-Stiftung vereinigt werden – inklusive das oben erwähnte berühmte Werk «Boule suspendue». Werke von Luis Buñuel, Giorgio de Chirico und Yves Tanguy ergänzten die Präsentation. Die Ausstellung wurde von einer Publikation bei Editions Fage begleitet.

Unterstützt von Credit Suisse, Partnerin Kunsthaus Zürich, sowie von der Hans Imholz-Stiftung und der Truus und Gerrit van Riemsdijk Stiftung.

Philippe Büttner, Kurator

 

MARCEL BROODTHAERS – MUSEUM

«Welches ist überhaupt die Rolle dessen, was das künstlerische Leben in einer Gesellschaft repräsentiert – nämlich eines Museums?» Diese Frage Marcel Broodthaers’ (1924 – 1976) zeigt, was den belgischen Künstler an seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Museum interessierte. Doch was genau war seine Vorstellung eines idealen Museums? Was kritisierte er an den Museen seiner Zeit? Und wie können wir auf der Grundlage seiner Werke die heutige Museumslandschaft reflektieren? Diesen Fragen ging unsere Ausstellung im Kabinett nach.

Broodthaers arbeitete zunächst als Dichter, Buchhändler und Museumsführer, bevor er sich im Alter von vierzig Jahren als Autodidakt der bildenden Kunst zuwandte. Als er 1976 verstarb, an seinem 52. Geburtstag, hinterliess er trotz der nur zwölfjährigen Schaffenszeit ein ungemein vielfältiges Werk. Am wohl intensivsten beschäftigte er sich mit dem Thema Museum, ausgelöst durch die 1968er-Bewegung. Im Nachgang der Proteste in Brüssel gründete er sein eigenes «Musée d’Art Moderne», das nie als reale Institution existieren sollte. Im Zentrum seiner Aktivität stand vielmehr, Fragen zum gegenwärtigen Kulturbetrieb aufzuwerfen.

Die Ausstellung legte den Fokus auf Broodthaers’ grafische Editionen, die die Überlegungen des Künstlers zum Museum bestens widerspiegeln. Die Werkgruppe zeigt, dass er den Begriff «grafische Editionen» relativ breit verstand: Sie umfasst neben Druckgrafik auch Film, Fotografie und installative Komponenten. Die 25 Werke, die Teil der Grafischen Sammlung des Kunsthauses sind und mit dieser Ausstellung erstmals in ihrer Gesamtheit präsentiert wurden, wurden ergänzt um ausgewählte Künstlerbücher und offene Briefe Broodthaers’. Die Begleitpublikation, die in der Reihe der «Sammlungshefte» erschien, entstand in engem Kontakt mit der Familie des Künstlers.

Simone Gehr, Kuratorin

 

Stellung beziehen – Käthe Kollwitz. Mit Interventionen von Mona Hatoum

«Ich will wirken in dieser Zeit»: Dieser Ausspruch von Käthe Kollwitz (1867 – 1945) bringt den rastlosen Einsatz einer engagierten Zeitzeugin auf den Punkt, die mit wachem Auge und kritischem Geist die vielen Umbrüche in ihrer Epoche – vom Ersten Weltkrieg über den Zusammenbruch der Weimarer Republik bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – sowohl miterlebte als auch künstlerisch kommentierte. Auf wenige andere Künstlerinnen und Künstler dürfte daher unser Ausstellungstitel «Stellung beziehen» besser passen als auf Kollwitz, die in ihren Werken Armut, Krieg und Elend anprangerte, ohne dabei ihre hohen künstlerischen Ansprüche aus dem Auge zu verlieren.

Angesichts von zwei uns derzeit stark beschäftigenden Kriegen hätte die Ausstellung aktueller kaum sein können, wobei der Gegenwartsbezug durch die Interventionen der zeitgenössischen Künstlerin Mona Hatoum (*1952, Beirut) zweifellos noch gesteigert wurde. Im Dialog beider Künstlerinnen wurden sowohl Überschneidungen als auch Unterschiede offenbar: Sowohl Kollwitz als auch Hatoum bedienen sich einer reduzierten Formensprache, setzen Farbe allenfalls pointiert ein und kreisen in ihren Werken um Themen wie Verletzlichkeit und Konflikterfahrung. Während sich Kollwitzʼ Kunst aber ganz direkt, in Gestalt breiter Kohlestriche, harter Gegenüberstellungen von Schwarz und Weiss sowie der schonungslosen Nahsicht erschütternder Bildmotive artikuliert, zeigt sich Hatoums Werk eher von einer poetisch-abstrakten Seite; leicht und filigran wirkt etwa ihre Skulptur «Cube (9 × 9 × 9)», die erst auf den zweiten Blick offenbart, dass sie vollständig aus Stacheldraht gefertigt ist.

Bereits in der Gruppenausstellung «Kollwitz neu denken» hatte sich Hatoum dem Werk ihrer Künstlerkollegin genähert. In unserer Ausstellung ging sie dieses Vorhaben nun aus ihrer eigenen, individuellen Perspektive an.

Zur Ausstellung erschien ein umfassender Katalog auf Deutsch und Englisch (Hirmer Verlag). Das Rahmenprogramm umfasste ein Konzert des Zürcher Kammerorchesters mit einem begleitenden Gespräch zwischen Lena-Catharina Schneider, Künstlerische Leitung ZKO, und Jonas Beyer, Kurator.

Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der Kunsthalle Bielefeld und in Zusammenarbeit mit dem Käthe Kollwitz Museum Köln.

Unterstützt von UNIQA Kunstversicherung Schweiz, der Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung, der Roswitha Haftmann Stiftung, der URANIA Stiftung und einer Stiftung, die nicht genannt werden möchte.

Jonas Beyer, Kurator

 

RECOLLECT!

Was wäre ein Museum ohne die Künstlerinnen und Künstler? Ihre Kunstwerke bilden den Kern und das Rückgrat der Institution. Doch Kunstschaffende produzieren nicht nur Kunst, sie schauen sich auch Werke anderer Künstlerinnen und Künstler an und lassen sich davon inspirieren. Mit der im August 2023 lancierten Reihe «ReCollect!» lädt das Kunsthaus Zürich Kunstschaffende ein, ihre Perspektive auf die historische Sammlung im Dialog mit eigenen Werken zu zeigen und damit den gängigen Kanon kritisch zu hinterfragen beziehungsweise lustvoll neu zu gestalten. Der Titel spielt mit der Idee des Re-Inszenierens der Sammlung, aber auch mit dem englischen Wort «recollect», zu Deutsch «erinnern». Es geht also um das (Wieder-)Entdecken von Geschichte(n), die noch nicht erzählt oder im Museum abgebildet sind, und um das Verknüpfen von Vergangenheit und Zukunft.

Den Auftakt machten die norwegischen Kunstschaffenden Ida Ebklad (*1980) und Matias Faldbakken (*1973), die peruanische Künstlerin Daniela Ortiz (*1985) sowie das anonyme Kunstkollektiv Hulda Zwingli aus Zürich. In drei verschiedenen Interventionsräumen präsentieren sie kanonische Werke in ungewohnter Manier oder bringen verborgene Schätze aus der Sammlung ans Licht, um damit auf blinde Flecken der Kunstgeschichtsschreibung hinzuweisen und neue Verbindungslinien aufzuzeigen. Mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen ergänzen sie museal geprägte Narrative um aktuelle Themen und kreieren eine frische, inspirierende Mehrstimmigkeit, die unserer heutigen Zeit entspricht.

Mirjam Varadinis, Kuratorin, und Laura Vuille, kuratorische Assistenz

 

ZEIT. VON DÜRER BIS BONVICINI

Die Zeit zählt zu den grossen Mysterien der Welt, und ihre Definitionen sind zahlreich. Sie finden sich nicht nur in der Religion, in Biologie und Ökonomie oder der Physik, sondern auch in der Kunst. Der Corona-«Stillstand», als Raum und Zeit schlagartig in ihren Extremen erlebt wurden, gab den Fragen rund um Zeit neue Impulse. Es gibt über hundert Begriffe, die das Wort «Zeit» enthalten; manche wie «Zeitenwende» oder «Freizeit» erleben heute ein überraschendes Comeback, andere wie «Zeitung» oder «Zeittakt» drohen zu verschwinden. Hingegen stehen neu auf der Agenda «Eigenzeit» oder auch «Zeitkonfetti». «Zeitdruck» wiederum kann sich mühelos über Jahrhunderte behaupten.

Die Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Musée international d’horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds entstanden ist, zeigte auf, dass die künstlerische Beschäftigung mit dem Begriff «Zeit» unendlich vielfältig ist. Im Verlauf von drei Jahren Recherchearbeit sind rund 230 Exponate (darunter 60 Uhren) aus sechs Jahrhunderten von 100 Kunstschaffenden und Uhrmacherinnen und Uhrmachern ausgewählt und über sechs thematische Kapitel verteilt worden, welche exemplarisch zur spannenden Erzählung der Zeitwahrnehmung und ihrer Messung beigetragen haben: 1. Deep Time, 2. Biologische Zeit, 3. Messbare, ökonomische Zeit, 4. Politische Zeit, 5. The Information Superhighway und 6. Eigenzeit. Es war weltweit eine der ersten Ausstellungen, die sowohl epochenübergreifend als auch transdisziplinär Kunst und Zeitmessgeräte in einen ebenbürtigen Dialog stellte.

Zur Ausstellung erschien ein interdisziplinärer, 320 Seiten starker Katalog in zwei Sprachen mit neuen Beiträgen von Mónica Bello, Anna Magdalena Elsner, Estelle Fallet, Cathérine Hug, Régis Huguenin-Dumittan, Monika Leonhardt, Nathalie Marielloni, Helga Nowotny, Rüdiger Safranski, Josef Teichmann, Sebastian Vivas und Stefan Zweifel im Snoeck Verlag (Köln).

Die Ausstellung wurde von einem umfangreichen Rahmenprogramm begleitet, das neben öffentlichen Führungen und einem Kunstvermittlungsprogramm Einblicke unter anderem in folgende Themenbereiche bot: Future-Food-Performance von Maya Minder inspiriert von Starköchin Lisa Jankovics; Debatte zur Frage «Are we contemporary» mit Burkhard Meltzer (ZHdK und Shared Campus), Matheus Rocha Pitta (Künstler), Julie Ren (UZH) und Fatma Shanan (Künstlerin); Podiumsgespräch zur Frage «Time is money?» in Kooperation mit der HSG bzw. Anna Elsner und Jamie Gloor sowie den Gästen Sinzo Aanza (Künstler), Caroline Dorn (ETHZ), Florian Eitel (Anarchismusforscher) und Josef Teichmann (ETHZ); und last but not least ein 6-teiliges Filmprogramm co-kuratiert mit Pia Watzenböck und Esther Braun für das Arthouse-Kino Piccadilly, wo unter anderem Cyril Schäublins preisgekrönter Film «Unrueh» (2022) und Chantal Akermans Kultfilm «Jeanne Dielman» (1975) zu sehen waren. Die Presseresonanz war gross und all diejenigen, die einen Ausstellungsbesuch versäumt haben, können dies im 30-minütigen Feature «Die Zeit in der Kunst» (SWR 2023, Regie Verena Knümann) im Replay des Arte-Kanals in den nächsten Jahren noch virtuell nachholen.

Unterstützt von Swiss Re – Partner für zeitgenössische Kunst und Credit Suisse – Partnerin Kunsthaus Zürich.

Cathérine Hug, Kuratorin

 

ERNST SCHEIDEGGER. FOTOGRAF

Im Jahr 1992 zeigte das Kunsthaus Zürich in Zusammenarbeit mit Ernst Scheidegger (1923 – 2016) eine Ausstellung, die der ganzen Spannweite von dessen Schaffen gewidmet war. Sie bezog also auch dessen Tätigkeit als Verleger, Journalist, Filmemacher, Bildredaktor und Maler mit ein. Über dreissig Jahre später würdigte ihn das Kunsthaus nun zur Feier seines 100. Geburtsjahrs erneut. In diesem Fall galt die Aufmerksamkeit aber ganz dem Fotografen Scheidegger. Eine Reihe früher, zum grossen Teil noch unveröffentlichter Aufnahmen und eine Auswahl der bedeutenden Fotografien Scheideggers von Künstlerinnen und Künstlern seiner Zeit (darunter Hans Arp, Max Bill, Richard Paul Lohse, Germaine Richier und Varlin – und natürlich Alberto Giacometti) standen im Mittelpunkt. Ergänzt wurden sie durch ausgewählte Werke derselben aus dem Eigentum von Kunsthaus und Alberto Giacometti-Stiftung. Damit umfasste die Ausstellung das davor und danach jener wesentlichen Wandlung in Scheideggers Karriere als Fotograf, die ihn von der autonomen, ausdrucksvollen Fotografie im Geiste seines Mentors Werner Bischof ab 1954 zu jener zurückhaltenden, ganz der Würdigung des künstlerischen Schaffens Anderer gewidmeten fotografischen Arbeit führte, für die er bis heute zurecht berühmt ist.

Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich, dem Verlag Scheidegger & Spiess und dem MASI Lugano, das die Ausstellung nach dem Kunsthaus als zweite Station zeigt. Zeitgleich mit der Ausstellung erschien im Verlag Scheidegger & Spiess die gebundene Publikation «Ernst Scheidegger. Fotograf» in einer deutschen und einer englischen Ausgabe sowie bei Edizioni Casagrande in einer italienischen. Unterstützt von der Monsol Foundation, der Ernst Göhner Stiftung und der Stiftung Erna und Curt Burgauer.

Philippe Büttner, Kurator

 

EINE ZUKUNFT FÜR DIE VERGANGENHEIT. SAMMLUNG BÜHRLE: KUNST, KONTEXT, KRIEG UND KONFLIKT

Der Waffenindustrielle Emil Bührle (1890  – 1956), der zwischen 1936 und 1956 in Zürich eine grosse und bedeutende Kunstsammlung aufbaute, ist bis heute umstritten. Die Gründe dafür liegen, wie das Historische Lexikon der Schweiz zusammenfasst, in seinem Reichtum aus dem Waffenverkauf vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, seinen Verbindungen zu konservativen und rechtsextremen Kreisen sowie seiner prestigeträchtigen Kunstsammlung, die er zur Zeit des nationalsozialistischen Kunstraubs aufbaute und in den ersten Jahren des Kalten Kriegs ausweitete. Vier Jahre nach Bührles Tod überführten seine Erben 1960 einen Drittel der Kunstsammlung in die Stiftung Sammlung E. G. Bührle und machten sie in einer Villa in Zürich der Öffentlichkeit zugänglich. Diese Werke sind seit 2021 als Dauerleihgabe im Kunsthaus Zürich deponiert. Ihre Erstpräsentation im Chipperfield-Bau, in der eine kunsthistorische Präsentation der Werke neben einem separaten Dokumentationsraum stand, stiess in den Medien und der Öffentlichkeit auf Kritik. Es wurde bemängelt, dass die problematischen Seiten Bührles als Waffenfabrikant und Kunstsammler nicht genügend hoch gewichtet und zu zurückhaltend vermittelt wurden. Angeregt von der neuen Direktorin Ann Demeester entstand in der Folge der Wunsch, eine neue Ausstellung der Sammlung Bührle zu realisieren, in der die Vermittlung dieser problematischen Aspekte im Mittelpunkt stehen sollte.

Folgende Leitprinzipien standen bei der Konzeption und Umsetzung der Ausstellung im Mittelpunkt:

Die Ausstellung wurde im November des Berichtsjahres eröffnet und war das Resultat einer intensiven Team-Arbeit. Die Ausstellung präsentiert sich als Kombination einer Kunstausstellung mit einer multimedialen und vielstimmigen Präsentation und Diskussion historischer Inhalte. Sie skizziert den historischen Kontext, in dem die Sammlung Emil Bührle entstanden ist und bringt auch die enge Verflechtung der Zürcher Kunstgesellschaft mit Emil Bührle zum Ausdruck. Sie zeigt den jetzigen Stand der Forschung zur Geschichte von einigen Werken auf, die jüdischen Sammlerinnen und Sammlern gehörten, die Opfer der NS-Verfolgung wurden.

Die Ausstellung versteht sich als ein erster Schritt in einem längeren Prozess. Sie beginnt in der Vergangenheit und endet mit Fragen nach der Zukunft. Dabei werden in Audio- und Videobeiträgen unterschiedliche Positionen präsentiert. Einen hohen Stellenwert hat die Einbeziehung der Besuchenden. Eine digitale Besucherumfrage und eine spezielle Wand im letzten Raum der Ausstellung, an der die Besuchenden ihre Fragen und Meinungen platzieren können, bieten dazu Gelegenheit. Wer die Ausstellung besucht, wird somit Teil des Prozesses, in dem das Kunsthaus seine gesellschaftliche Rolle überdenkt. Im Rahmen von regelmässigen Angeboten unter dem Titel «Das Kunsthaus hört zu» sind die Mitglieder des Ausstellungsteams in der Ausstellung präsent und offen für das Gespräch mit den Besuchenden. Die Ausstellung verläuft in drei Phasen. Eröffnet im November 2023, erfährt sie im Frühjahr 2024 anhand eines Rahmenprogramms eine weitere inhaltliche Vertiefung. Nach der Veröffentlichung des Schlussberichts des Historikers Raphael Gross im Sommer 2024, der aktuell die Provenienzforschung der Stiftung Sammlung E. G. Bührle überprüft, folgt eine dritte Phase.

Philippe Büttner, Mitglied des Kernteams

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