Ernst Scheidegger
Kriegsende, 1945
Ernst Scheidegger (1923 in Rorschach – 2016 in Zürich) gehört zu den bekanntesten und wichtigsten Schweizer Fotografen des 20. Jahrhunderts. Er war sowohl mit dem Kunsthaus Zürich als auch mit der Alberto Giacometti-Stiftung eng verbunden. Anlässlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages widmete ihm das Kunsthaus im Berichtsjahr eine Ausstellung, in der sein fotografisches Werk im Zentrum stand (siehe Ausstellungen).
Scheideggers berufliche Entwicklung zeigt von Anbeginn an seine grosse Vielseitigkeit. Von seiner ersten Ausbildung her Schaufensterdekorateur, begann Scheidegger 1944 als 21-Jähriger mit seiner eigenen Maltätigkeit, die er bis in spätere Jahre ausübte. 1945 bis 1948 besuchte er die Fachklasse für Fotografie bei Hans Finsler an der Kunstgewerbeschule Zürich, wo er u. a. auch Unterricht bei Max Bill (Formenlehre) hatte. 1948 / 49 war er Assistent des Fotografen Werner Bischof und von Max Bill. 1952 bis 1954 war er als freier Fotojournalist für die legendäre Fotoagentur Magnum tätig. Das Jahr 1953, in dem zwei mit ihm befreundete Fotografen, sein erwähnter Mentor Werner Bischof und Robert Capa, den Tod fanden, brachte eine Zäsur. Scheidegger wandte sich zunehmend von der autonomen Fotografie im Sinne von Magnum ab und spezialisierte sich auf die fotografische Würdigung des künstlerischen Schaffens Anderer, nicht zuletzt desjenigen seines berühmtesten Modells Alberto Giacometti.
Das Kunsthaus besitzt einige eindrucksvolle Beispiele von Scheideggers Arbeit als Maler, die zumeist deutlich von dem Schaffen der Zürcher Konkreten geprägt ist.1 Vier Werke, ein Ölbild, zwei Gouachen und eine Fotocollage, kamen im Berichtsjahr aus Anlass der oben erwähnten Ausstellung als grosszügige Schenkungen von Scheideggers Lebensgefährtin Helen Grob hinzu (siehe Verzeichnis der Neuzugänge). Das Ölbild und die eine Gouache zeugen von der Auseinandersetzung mit den Zürcher Konkreten. Die hier vorgestellte kleine Gouache von 1945 aber, die aus Anlass des Waffenstillstandes vom 8. Mai 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa entstand, hat ein anderes Gepräge: Das kleine Bild des zur Entstehungszeit wohl noch 22-jährigen Künstlers ist unten rechts mit dem Monogramm «ES» signiert. Es zeigt, von freien hellblauen Strichen umgeben, eine dichte Komposition, die ganz direkt auf den Moment des Kriegsendes Bezug nimmt. Unten sehen wir in Gelb einen abfallenden Hügel oder wohl vielmehr einen Teil des Globus, dessen Oberfläche mit schwarzen und roten Strichen und Formen gesprenkelt ist. Weiter links verdichten sich diese Elemente vor dem Gelb des Landes und der dunkelblauen Matrix des Himmels zu zeichenartigen Strukturen, unter denen eine rote, sonnenartige Scheibe, Kreuze (wohl Grabkreuze) und gelbe Formen, die zum Teil an fallende Bomben erinnern, zu entdecken sind. Insgesamt präsentiert sich diese Zone wie eine verdichtete Schrift von Formen, die das Geschehen des schrecklichen Krieges lesbar werden lässt. Der grösste Teil der Himmelsfläche aber ist frei und dort schwebt, einen Zweig im Schnabel haltend, eine weisse Friedenstaube. Das durch Picasso neu aktivierte Symbol der Taube erscheint hier als Bote einer neuen, friedlicheren Zeit.
Als kleines Zeichen der Hoffnung in wiederum kriegerischer Zeit wurde das eindrucksvolle kleine Werk in die oben erwähnte Ausstellung integriert. Es konnte dort neben Alberto Giacomettis Portraitgemälde von Ernst Scheidegger von 1959 hängend bewundert werden.
1 Zu Scheidegger als Maler s. Max Bill, «Reminiszenzen», in: Ernst Scheidegger, Photograph, Cinéast, Gestalter, Redaktor, Maler, Verleger, Galerist, Ausst.-Kat Kunsthaus Zürich, Bern 1992, S. 200–221.