Ferdinand Hodler
Baum am Brienzersee vom Bödeli aus, um 1906
Das Landschaftswerk von Ferdinand Hodler (1853 in Bern – 1918 in Genf) umfasst über siebenhundert Gemälde, darunter zahlreiche Darstellungen von Wäldern, Seen und Berggipfeln. Häufig gibt es mehrere Fassungen vom gleichen Sujet, etwa vom Thunersee mit Stockhornkette. Die Darstellung von einzelnen Bäumen gehört ebenfalls zu Hodlers Repertoire. Der Maler bezeichnete seine Baumbilder gern als «Bildnis»,1 also als individualisierte Darstellungen. Mit einem Bild dieses Typus’ haben wir es auch bei «Baum am Brienzersee vom Bödeli aus» zu tun. Dieses Sujet blieb allerdings einzigartig im umfangreichen Œuvre des Künstlers. Auf einer saftigen Wiese am Ufer des Brienzersees steht ein Laubbaum mit prächtiger Baumkrone. Das Buschwerk im Vordergrund verdeckt dessen Stamm nahezu ganz.
Am anderen Ufer ist links im Bild die Kirche von Ringgenberg zu sehen und die Bergkette Richtung Niederried bei Interlaken. Hodlers Standort befand sich am sogenannten Bödeli, der Schwemmebene zwischen Thuner- und Brienzersee, und zwar in Bönigen, am südlichen Ende des Brienzersees.
Hodler hat das Gemälde so angelegt, dass die Mitte des Baumes mit kugelrunder Krone fast mit der Bildmitte übereinstimmt. Die Komposition wirkt dadurch symmetrisch, ohne monoton zu sein. Dynamisiert wird die Bildanlage mit der abschüssigen Bergkette nach rechts und die ungleichmässig verteilten Büsche im Vordergrund sowie mit den Wolken am Himmel. Hodler wird damit seinem Prinzip des Parallelismus gerecht, mit dem er versuchte, anhand von wiederholten Formen und Farben und einer symmetrischen Anordnung Ordnung und Einheit in die chaotische und zufällige Natur zu bringen. Als des Künstlers Aufgabe verstand er, das «ewige Element der Natur auszudrücken».2 Während auf früheren Baumbildern weit mehr von der umliegenden Landschaft zu sehen ist, isolierte der Künstler nach 1900 die Bäume mehr und mehr und überhöhte sie durch einen Wolkenkranz. Dadurch verlieh er ihnen einen symbolhaften Charakter.
Neben Ölfarben dienten Hodler auch Ölfarbenstifte für die Fertigstellung des Gemäldes. 1902 kamen die sogenannten «Raffaëlli-Ölfarbenstifte» auf den Markt. Der Farbteig ist bei diesen nicht in Tubenform, sondern in Stiftform konserviert. Dieses Farbmaterial erlaubte Hodler Farbakzente zu setzen, aber auch die nachträgliche Überarbeitung seiner Gemälde, denn dessen Verwendung ist in der Regel auf den zuletzt aufgetragenen Lagen des Farbauftrags auszumachen.3 Auf dem Baumbild vom Bödeli aus dürfte Hodler die Ölfarbenstifte – mit Ausnahme des Himmels – auf der gesamten Bildfläche verteilt als Akzente eingesetzt haben.
Um 1906 gehörte Hodler zu den angesehensten und progressivsten Malern in Europa. 1904 feierte er seinen internationalen Durchbruch an der Sezessionsausstellung in Wien und im Jahr darauf wurde ihm ein ganzer Raum an der Berliner Sezession gewidmet. Die berufliche Genugtuung scheint sich in dem heiteren Bild mit dem Baum in voller Pracht wiederzufinden.
1 Bätschmann/Müller 2008 (wie Anm. 1), S. 3; Loosli 1921–1924 (wie Anm. 1), Bd. 4 (1924), S. 299.
Oskar Bätschmann und Paul Müller, «Das Landschaftswerk von Ferdinand Hodler», in: dies., Ferdinand Hodler. Catalogue raisonné der Gemälde, Bd. 1: Die Landschaften, mit Beiträgen von Regula Bolleter, Monika Brunner, Matthias Fischer, Matthias Oberli, Zürich 2008, S. 26–27; Charles A. Loosli, Ferdinand Hodler. Leben, Werk und Nachlass, 4 Bde., Bern 1921–1924, Bd. 2 (1922), S. 64–65.
2 Bätschmann/Müller 2008 (wie Anm. 1), S. 3; Loosli 1921–1924 (wie Anm. 1), Bd. 4 (1924), S. 299.
3 Karoline Beltinger, «Bemerkungen zu Ferdinand Hodlers Malfarbengebrauch», in: dies. (Hg.), Kunsttechnologische Forschungen zur Malerei von Ferdinand Hodler, Zürich 2007, S. 151–162, hier S. 156.