Schaffhauser Rheinfall, um 1775

Johann Heinrich Wüest

Wenige Werke im Kunsthaus Zürich sind dem Publikum so wohlvertraut wie der «Rhonegletscher» (Inv.-Nr. 386) von Johann Heinrich Wüest (1741 in Zürich – 1821 in Zürich). Es darf als Glücksfall bezeichnet werden, dass unser Haus mit dem «Schaffhauser Rheinfall» nun das ursprüngliche Pendant dieses Werkes aus Privatbesitz erwerben konnte1. Vereint waren die zwei Gemälde zuletzt in unserer Ausstellung zur Romantik in der Schweiz (13.11.20 – 14.2.21)2, und der nun zustande gekommene Kauf ist ein glückliches Beispiel dafür, dass sich im Zusammenhang mit Ausstellungen immer wieder die Möglichkeit einer bedeutenden Erwerbung auftun kann.

Beide Ölgemälde gehörten ursprünglich zu einer 18-teiligen Wanddekoration im Gartensaal des Zürcher Hauses «Zum Wollenhof» (heute Schipfe 59) und hatten dort zweifellos eine Sonderstellung inne, bedenkt man, dass die restlichen Panneaux des Ausstattungsprogramms unspezifische Landschaften darstellen (einige dieser Panneaux befinden sich ebenfalls im Kunsthaus; s. Inv.-Nr. 387–390).

Für eine Wanddekoration fällt auf, dass Wüest nicht nur beim «Rhonegletscher», sondern auch beim «Schaffhauser Rheinfall» dem Himmel auffällig viel Platz eingeräumt hat: jeweils mehr als die obere Bildhälfte wird vom Blau des Himmels und dem bewegten Spiel der Wolken eingenommen, was im funktionalen Zusammenhang einer Wanddekoration durchaus vom Eigensinn des Künstlers zeugt.

Beide Werke sind auch insofern von ausserordentlichem Rang, als sie eigenhändige Interpretationen von kleinformatigen Ölstudien sind, die Wüest einige Jahre zuvor im Auftrag des englischen Naturforschers, Archäologen und Kunstsammlers John Strange angefertigt hat. Dass die diesjährige Erwerbung auch diese zwei Ölstudien umfasst, unterstreicht einmal mehr die Bedeutung des Ankaufs, stufte doch das Kunsthaus die kleine, für Lord Strange gemalte Holztafel mit dem Rhonegletscher noch 2007 als «verschollen»3 ein.

Nicht nur kann das Kunsthaus mit diesem Zuwachs an kapitalen Werken Wüests ein Stück Zürcher Wissens- und Kulturgeschichte vermitteln. Auch darf unser Haus nun prachtvolle Interpretationen zweier Naturschauspiele direkt nebeneinander präsentieren, die den Zauber des jeweiligen Ortes gekonnt einzufangen vermögen.4

Jonas Beyer

 

Johann Heinrich Wüest Schaffhauser Rheinfall, 1772

 

Johann Heinrich Wüest Rhonegletscher, 1772

 

 

1 Das Werk stammt aus der umfangreichen Rheinfallsammlung von Peter Mettler.
2 Vgl. Ausst.-Kat. Im Herzen wild. Die Romantik in der Schweiz, Kunsthaus Zürich, München/London/New York 2020, S. 158.
3 Kunsthaus Zürich. Gesamtkatalog der Gemälde und Skulpturen, hrsg. von Zürcher Kunstgesellschaft, Ostfildern 2007, S. 70.
4 Vgl. eingehend zu beiden Werken Ruth Vuilleumier-Kirschbaum, «Spurensuche zum Schaffhauser Rheinfall von Johann Heinrich Wüest», in: Ausst.-Kat. Der Rheinfall. Erhabene Natur und touristische Vermarktung, Mittelrhein-Museum Koblenz, Regensburg 2015, S. 27–38. Dort auch die Erwähnung zweier gezeichneter Vorstudien Wüests zum Schaffhauser Rheinfall, die unsere Grafische Sammlung im Studienband O 49, fol. 39 verwahrt.

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