Figurenszene, um 1915

Unbekannt
Figurenszene, um 1915

Eine absonderliche Szenerie öffnet sich uns. Schauen wir auf eine Bühne, oder ist es die Theatralik eines Irrgartens, die uns von einer Figur zur anderen springen macht? Eine jede Person genügt sich selbst, auch das Duo in der Bildmitte ist kein Paar. Wer ist die Frau, deren lichtes, bläuliches Kleid unseren unruhig schweifenden Blick zentriert, worauf weist das Medaillon in Bauchhöhe (wie es auch die ihr nahe Figur am Boden zeichnet)? Und was soll der Pfahl, der auf sie weist und um den sich die ganze Anlage wie ein Karussell zu drehen scheint? Vielleicht ist dieses Requisit auch eine Staffelei, neben der ein Maler mit zwei Pinseln Augenmass nimmt – oder aber dieser Himmelsgucker gestikuliert nur vor sich hin, wie es die Figur mit aufgesetztem Hut tut und die deklamierende Person im Vordergrund. Jemand rennt gegen den feurig leuchtenden Horizont, der einem ornamentalen Fries ähnlich ist, wo aber das Kuriosum als Tanz- und Schattentheater ein exotisches Gleiches findet. Wie ein Wächter thront davor ein mehr masken- als fratzenhafter, onanierender Mann, unten befummelt eine Person ihren Hintern, auch sie beide sind wie die weiteren Personen bzw. ihre Darsteller ganz bei oder ausser sich, ebenso der Trommler, der diese Groteske dumpf beschallt: Boum-boum-boum.

Das Bilderrätsel ist ein doppeltes: Was hat es mit diesen zwölf Aposteln auf sich, und welcher Demiurg hat sie gemalt? Über Jahrzehnte fristete das Ölbild, das hier erstmals reproduziert wird, ein Kellerdasein. Es befand sich im Nachlass des Schweizer Malers Otto Morach. Spätestens bei der Erarbeitung seines Œuvrekatalogs 1 wurde klar, dass dieses Werk nicht von ihm stammt. Erkundigungen durch Hugo Stüdeli, Morach-Neffe, Nachlassverwalter und Schenker des Gemäldes ans Kunsthaus Zürich, haben die vage Vermutung verstärkt, dass es sich beim «Gemälde von Unbekannt» um ein Werk von Marcel Janco aus seinen Zürcher Jahren handeln könnte.2 Auch ex negativo bleibt diese Spur bestehen, da sich kein Maler des «Kubofutoexpressionismus», wie er eine Schweizer Künstlergeneration geprägt und international vernetzt hat, als Autor empfiehlt. Gegen eine Zuschreibung spricht ganz besonders die Meinung der Tochter von Marcel Janco, die das Werk «im Stile von Janco» bezeichnet, letztlich aber apodiktisch geurteilt hat: «Je ne sens pas Janco.» 3 Ihrer Einschätzung steht ein ausführlicher Bericht des Janco-Monografen Harry Seiwert gegenüber, der folgert, dass das Werk mit einem «ausserordentlich hohen Wahrscheinlichkeitsgrad» von Janco ist.4 Sowohl in der künstlerischen Handschrift wie in Motiven bestehen viele Parallelen und Verwandtschaften zu seinen wenigen erhaltenen Gemälden um 1915 /1916, aber auch zu den Holz-, Linolschnitten und Masken aus der Dadazeit.5 Zieht man in Betracht, dass Janco und Morach in der Künstlergruppe «Das Neue Leben» (1918 –1920) und im Zürcher-Zirkel «Radikale Künstler» (1919) Seite an Seite aktiv waren, zudem Morach seine Beziehung zu Janco als «freundschaftlich» bezeichnete, so machen auch biografische Notizen diese Autorschaft nachvollziehbar.

Raimund Meyer

1Marie-Louise Schaller, Otto Morach (1887 –1973). Mit einem kritischen Katalog der Staffeleibilder, Zürich/Solothurn/München 1983 (= Œuvrekataloge Schweizer Künstler Bd. 11).
2Marcel Janco (Bukarest 1895 – Tel Aviv 1984) kam nach Abschluss des Gymnasiums und künstlerischer Mitarbeit an der rumänischen Avantgarde-Zeitschrift «Simbolul» im Herbst 1914 nach Zürich, studierte an der ETH Architektur, war wesentlich an den Dada-Veranstaltungen und -Publikationen beteiligt, bevor er Ende 1919 nach Paris weiterreiste.
3Deborah (Dadi) Janco (Bukarest 1932 – Tel Aviv 2020) im schriftlichen und mündlichen Austausch mit dem Verfasser.
4Harry Seiwert, Ein Gemälde von unbekannter Hand aus dem Nachlass Otto Morachs, Trier 2019, S. 24 [unpubliziert]; ders., Marcel Janco. Dadaist – Zeitgenosse – wohltemperierter morgenländischer Konstruktivist, Frankfurt am Main 1993 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXVII, Kunstgeschichte Bd. 173).
5Als Referenzwerke sind von speziellem Interesse: «Davidesco» (1912 –1914), «Inferno» (1915), «Der Seiltänzer» (1915), «Cabaret Voltaire» (1916, verschollen), «Bal à Zurich» (1916 –1917); «La première aventure céleste de Mr Antipyrine par Tristan Tzara avec des bois gravés et coloriés par Marcel Janco» (1916).

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