L’araignée qui pleure, um 1880

Odilon Redon
L’araignée qui pleure, um 1880

Arachnophobiker aufgepasst: Unsere vor sieben Jahren durch ein Legat an das Kunsthaus gekommene Spinne von Odilon Redon hat Zuwachs bekommen. Der erste Zugang von 2013 zeigt eine Spinne, deren Gesichtszüge keineswegs so anthropomorph gestaltet sind, als dass man zwingend an eine Kreuzung von Mensch und Spinne denken müsste. Unsere aktuelle Zeichnung jedoch ist eindeutig ein solches Mischwesen und entspricht damit jener Charakterisierung, die Joris-Karl Huysmans in seinem Roman «Gegen den Strich» über Redons Bildfindung abgab: eine Spinne, «die in der Mitte ihres Körpers ein Menschenantlitz beherbergt».1

Das verschmitzte Gesicht, das unsere erste Variante aufweist, ist nun einem tieftraurigen Antlitz gewichen. Nicht einmal scheint ausgemacht, dass der Kopf fest dem Verbund des Spinnenkörpers zugehört, vielmehr «schwebt» er in der Bildmitte und wird von neun Beinen (anstelle der bei jeder Spinne üblichen acht) gerahmt. Da den Schädel zudem eine dezente Aureole mit schwarzen Strahlen umgibt – oder sind es Haare?, so lässt Redon sein Publikum rätseln –, stellen sich Assoziationen zu Redons Bildern des abgetrennten Haupts Johannes des Täufers ein. Nicht zufällig tragen Darstellungen von dessen abgeschlagenem Schädel zuweilen schlichte, verallgemeinernde Titel wie «Tête de martyr» (siehe etwa Redons Kohlezeichnung aus dem Kröller-Müller Museum, Inv.-Nr. KM 107.499): Das gewaltsam vom menschlichen Organismus abgetrennte und daraufhin sorgfältig aufgebahrte Körperteil wird zum allgemeingültigen Symbol für Einsamkeit, Verfolgung und Aufopferung.

Redons grundsätzliche Idee einer Menschenspinne taucht mehrmals in seinem Œuvre auf und fand nicht zuletzt in der Lithografie von 1887 weitreichende Verbreitung. Immer wieder hat man in dieser Bildidee eine Metapher für den Künstler als solchen gesehen, der durch den aufreizenden Schrecken, den seine Gegenwart hervorruft, zugleich Anziehung und Abwehr in seinem unmittelbaren Umfeld auslöst. Wenige Jahrzehnte zuvor hat Jules Michelet in seinem Buch «L’insecte» ein bemitleidenswertes Bild der Spinne gezeichnet, die in einem Teufelskreis gefangen sei und nur essen würde, damit sie ihr Netz spinnen könne, während sie wiederum ihr Netz nur zu spinnen hätte, um Nahrung aufnehmen zu können: «Elle est constamment serrée dans ce cercle vicieux: pour filer, il faut manger; pour manger, il faut filer.» 2 Und wenig später weist Michelet die Spinne in seinem Buch gar als Künstlerin aus, die ohne ihr Netz ( = toile, was im Französischen bezeichnenderweise auch Leinwand bedeutet) gänzlich aufgeschmissen wäre: «L’araignée est si nerveuse, que la peur qui la rend artiste peut aussi la paralyser et lui faire perdre la tête. Sa toile seule lui donne courage.» 3

Die bei Redon vermutete Gleichsetzung von Spinnen- und Künstlerdasein erhält vor diesem Hintergrund freilich einige Plausibilität. Nimmt man hinzu, dass auch das Haupt Johannes des Täufers bei Redon für eine herausgehobene, der Gesellschaft entrückte Position steht, so sehen wir uns bei Redons Koppelung zweier Bildthemen der in der Kunstgeschichte immer wieder auftauchenden Erzählung vom Künstler als Aussenseiter, wenn nicht gar Märtyrer der Gesellschaft, gegenüber. Henri Matisse werden solche Querbezüge der Zeichnung bewusst gewesen sein. Ihm gehörte einst die hier vorliegende Zeichnung 4, die – nachdem sie mehrere Male den Besitzer wechselte und zuletzt Teil der Hamburger Sammlung von Klaus und Erika Hegewisch war – nun zu den Schätzen des Kunsthauses zählt.

Jonas Beyer

1Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, Zürich 1981, S. 142.
2Jules Michelet, L’insecte. L’infini vivant, 6. Aufl. Paris 1867, S. 210.
3Ebd. S. 219.
4Alec Wildenstein, Odilon Redon. Catalogue raisonné de l’œuvre peint et dessiné, Bd. 2: Mythes et légendes, Paris 1994, S. 172, Nr. 1086.

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