PORTRAIT ERNST SCHEIDEGGER

Alberto Giacometti
PORTRAIT ERNST SCHEIDEGGER, UM 1959

Bis heute prägen Ernst Scheideggers Fotografien und Filme unser Bild Alberto Giacomettis. Die freundschaftliche Verbundenheit mit dem Künstler, den er 1943 als junger Soldat in Maloja kennen gelernt hatte, erlaubte es Scheidegger, sowohl in Paris wie im Bergell zum unauffälligen Zeugen von Giacomettis Schaffens- und Lebenswelt zu werden. Seine ihrem Wesen nach dokumentarischen Fotos des Künstlers verbinden eine unaufgeregte Zeugenschaft mit einem inspirierten Blick, der stark von der klärenden Präsenz des Lichtes lebt. Wie ein Brief Giacomettis von 1957 an seinen New Yorker Galeristen Pierre Matisse zeigt, schätzte der Künstler Scheideggers Arbeit gerade in den Jahren, in denen auch das Porträt entstand, sehr: «[…] il y a un jeune photographe de Zurich Scheidegger qui a fait il y a quelques années beaucoup de photos chez moi des sculptures de l’atelier etc. Il en a fait maintenant un petit livre, il a un éditeur à Zurich, un jeune, qui le publie. Le livre, j’ai vu la maquette, est très très bien et je tiens beaucoup à ce qu’il sorte parce qu’il s’est donné beaucoup de peine, c’est comme un reportage, un peu, mais très particulier.» 1

Giacomettis Porträt Scheideggers konnte aus dessen Nachlass erworben werden. Es entstand Ernst Scheidegger zufolge in zwei Wintern 1958/59 in Stampa; Giacometti hat es frühestens 1961 auf dem Bild selber auf 1959 datiert. 2 Der Dargestellte selber hat den Entstehungsprozess des Bildes wie folgt beschrieben: «Auch ich sass für ihn zwei Winter lang auf einem harten Holzstuhl. Es war nie leicht, für ihn zu posieren. Zwei Meter vom Maler entfernt, durfte ich mich absolut nicht rühren. Seine Augen befragten mich mit grosser Intensität, forderten von mir die gleiche Intensität, als ob ich aktiv an der Arbeit teilhätte – eine seltsame Verbundenheit entstand. […] Über einen Monat sass ich fast täglich Modell. […] Das Bild war auch im darauffolgenden Jahr nicht fertig. Wieder sass ich auf dem unbequemen Stuhl, genau an der alten, am Boden bezeichneten Stelle.» 3

Scheidegger trägt einen Wintermantel und einen Schal, die Hände stecken in den Taschen. Auch seine Haltung mit dem leicht schräg gehaltenen Kopf wirkt unüblich leger. Dazu passt die lichte Farbigkeit des Bildes, die an Aquarellmalerei erinnert. Der Farbauftrag ist zumeist dünn, nur im Bereich des Gesichtes verdichtet sich die Malerei in für Giacometti charakteristischer Weise zu einem sich in Schichten entwickelnden Protokoll seiner Wahrnehmung. Hier verschwindet nun auch alles Beiläufige. Der Fotograf – sonst selber gewohnt, das Sichtbare einzufangen – sitzt reglos da, bemüht, der intensiven künstlerischen Befragung standzuhalten.

Ähnlich wie im 1958 entstandenen Bild der immateriell wirkenden Mutter des Künstlers aus dem Besitz der Giacometti-Stiftung (GS 256), scheinen die Lineamente im Hintergrund des Scheidegger-Porträts Elemente einer konkreten Wandstruktur zu evozieren. Anders als in jenem gehen sie in diesem aber nicht in eine gemalte Rahmung der Komposition als Ganzes über. Die unmittelbare Präsenz des Dargestellten wird dadurch noch verstärkt.

Philippe Büttner

1New York, Pierpont Morgan Library, Pierre Matisse Gallery Archive, box 11, folder 23, item 140. Der zitierte Text entspricht der Transkription des unpublizierten Briefwechsels von Giacometti und Matisse, die mir dankenswerterweise von Catherine Grenier, Direktorin der Fondation Alberto et Annette Giacometti in Paris, zur Verfügung gestellt wurde. In späteren Jahren scheint sich Giacometti von der mittlerweile starken Präsenz von Scheideggers Fotografien auch eingeengt gefühlt zu haben, s. Beat Stutzer, «Alberto Giacometti, von Fotografen gesehen», in: Alberto Giacometti neu gesehen. Unbekannte Fotografien und Zeichnungen, Ausst.-Kat. Bündner Kunstmuseum Chur, Zürich 2011, S. 33 – 52, hier S. 45.
2Ernst Scheidegger, Alberto Giacometti. Spuren einer Freundschaft, Zürich 2013, S. 4, Abbildung auf dem Frontispiz. Anscheinend fertig, aber noch unsigniert ist das Bild in diesem Band zudem (S. 35) auf einem Foto des Ateliers in Stampa, an einer Wand lehnend, zu sehen. Serena Bucalo von der Alberto Giacometti-Stiftung in Paris zufolge stammt dieses Foto von 1961. Damit ist die Datierung 1962, die sich in den Katalogen der Ausstellungen findet, in denen das Bild zu sehen war, unrichtig: La Svizzera Italiana onora Alberto Giacometti, Ausst.-Kat. Museo civico di Belle Arti Lugano, Lugano 1973, Kat. Nr. 45 («Ritratto del signor Scheidegger», Masse unrichtig); Alberto Giacometti. Plastiken. Gemälde. Zeichnungen, Ausst.-Kat. Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg / Städtische Kunsthalle Mannheim [Duisburg] 1977, Kat. Nr. 78 («Porträt E.S.», Masse unrichtig) – alle ohne Abbildung des Werks. Betreffend die Anwesenheit des Künstlers in Stampa in den hier interessierenden Jahren, teilte Casimiro Di Crescenzo, der im Auftrag der beiden Giacometti-Stiftungen (Paris und Zürich) die Edition des Briefwechsels Alberto Giacomettis mit der Familie vorbereitet, schriftlich Folgendes mit: Alberto und seine Brüder planten ihre Aufenthalte in Stampa in jenen Jahren möglichst so, dass die Mutter nicht lange alleine war. Bereits 1957 war Alberto von November bis Mitte Dezember in Stampa gewesen. 1958 war er im Juni / Juli und dann vom 20. November bis zum 17. Dezember dort, 1959 im April und ab der zweiten Hälfte November, um 1960 dann erst im März zurückzukehren. Damit ist klar, dass sich die Angaben von Ernst Scheidegger betreffend der Entstehungsdaten für das Porträt aus dem Briefwechsel Albertos mit der Familie grundsätzlich stützen lassen und dass «Winter» jeweils November bis Dezember bedeutet, nicht aber etwa Januar oder Februar. Das Bild Scheideggers dürfte also in den Monaten November und Dezember der Jahre 1958 und 1959 entstanden sein. Siehe betreffend den Eingang des Werks in die Kunsthaus-Sammlung auch den Bericht zur Sammlungstätigkeit auf S. 40 – 42 dieses Jahresberichts.
3Scheidegger 2013, wie Anm. 2, S. 13 –14.

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