1 2 3 4 3 2 1 (+)

Sol Lewitt
1 2 3 4 3 2 1 (+), 1986

«Die interessanteste Eigenschaft des Kubus ist, dass er relativ uninteressant ist. Im Vergleich zu anderen dreidimensionalen Formen fehlt ihm jegliche aggressive Kraft, er impliziert keine Bewegung, er ist die unemotionalste aller Formen. Er ist daher die Form, die sich am besten als Basiseinheit für kompliziertere Funktionen eignet, als grammatisches Hilfsmittel, von dem die Arbeit ausgehen kann. Weil er ein universell anerkannter Standard ist, wird vom Betrachter keine Intention verlangt. Man versteht sofort, dass der Würfel einen Würfel darstellt, eine geo-metrische Figur, die unbezweifelbar sie selbst ist. Durch die Verwendung des Würfels vermeidet man die Notwendigkeit, eine andere Form zu erfinden, und behält sich seine Verwendung für die Erfindung vor.» 1 Mit diesen Worten von 1966 erläuterte der Amerikaner Sol LeWitt (1928 – 2007), Sohn russischer Einwanderer, seine Wahl des Würfels, den er als Grundform für eine Vielzahl von Skulpturen seit Anfang der 1960er-Jahre verwendete. Ausgehend von diesem klar definierten, leicht verständlichen Modul entwickelte der Künstler zahlreiche Variationen zu einem neuen Formenvokabular. Waren seine «Strukturen», wie er sie seit 1962 nannte, um sie vom traditionellen Skulpturenbegriff abzuheben, zunächst hauptsächlich aus schwarz bemaltem Holz gefertigt, wechselte LeWitt um 1965 zur Farbe Weiss über. Neben Holz verwendete er später auch Aluminium oder Stahl für seine Wand- und Bodenobjekte.

Mit seinen modularen Strukturen hielt er dem damals vorherrschenden abstrakten Expressionismus, der die individuelle Handschrift des Künstlers feierte, eine sachlich-nüchterne Kunstform entgegen, die das handwerkliche Können des Künstlers vollkommen in den Hintergrund drängte und schliesslich ganz tilgen sollte. LeWitt stellte das Konzept über die Anfertigung, was zur Folge hatte, dass jemand an seiner Stelle das Kunstwerk für ihn ausführen konnte. Seine revolutionäre Auffassung von Kunst veröffentlichte er 1967 unter dem Titel «Paragraphs on Conceptual Art» («Paragraphen über konzeptuelle Kunst»), wodurch er als Vater der Konzeptkunst in die Kunstgeschichte eingegangen ist. 2

Obschon viele von LeWitts Arbeiten auf geometrischen Formen basieren, ist ihre Gestalt in der Zusammensetzung häufig nicht vorhersehbar. Oftmals sind die modularen Kuben derart auf- und nebeneinander geschichtet, dass eine Ordnung auf den ersten Blick kaum zu erkennen ist. LeWitt war es wichtig zu betonen, dass er als Konzeptkünstler nicht rational, sondern intuitiv vorgeht, und auf diese Weise Lösungen findet, die sich durch Logik selbst nicht ergeben würden. Bei der vorliegenden Bodenarbeit mit dem Titel «1 2 3 4 3 2 1 (+)» 3 von 1986 handelt es sich um eine Struktur mit «offenen Kuben», bestehend aus zwei Reihungen, die übers Kreuz gestellt sind. Die Würfel nehmen von 1 bis 4 zur Mitte hin progressiv zu und regressiv wieder ab. LeWitt hat mehrere Varianten von übers Kreuz gestellten Würfelformationen konzipiert und in verschiedenen Grössen und Materialien herstellen lassen. 4 Das hier besprochene Werk wurde anlässlich der Zürcher Ausstellung in der Galerie Annemarie Verna 1986 in der Schweiz gefertigt.5

Dank der grosszügigen Schenkung von Thomas und Cristina Bechtler beherbergt das Kunsthaus Zürich neben der 1979 erworbenen «Wall Drawing» von 1972 sowie einer Reihe von Arbeiten auf Papier nun auch eine repräsentative dreidimensionale Arbeit von Sol LeWitt in seiner Sammlung.

Sandra Gianfreda

1 Sol LeWitt, «The Cube» (1966), in: Alicia Legg (Hg.), Sol LeWitt, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York 1978, S. 172; dt. zit. nach Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden / Basel 1995, S. 185.
2 In: Artforum, Bd. 5, Nr. 10, 1967, S. 79–83; engl./dt. in: Gerd de Vries (Hg.), Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965, Köln 1974, S. 176–185.
3Im Entstehungsjahr autorisierte der Künstler den Titel «Struktur Nr. 9».
4 Ein Werkverzeichnis seiner «Structures» steht leider noch aus, vgl. aber Sol LeWitt. Structures 1962 – 1993, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, Oxford, und weitere Stationen, Oxford 1993, Nr. 75.
5Weiterführende Literatur: Nicholas Baume (Hg.), Sol LeWitt. Structures 1965 – 2006, Ausst.-Kat. City Hall Park, New York, New Haven / London 2011.

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