Die Entspannung, 2022

Veronika Spierenburg
Die Entspannung, 2022

In diesem neuen, erstmals 2022 im Kontext der Ausstellung «Take Care: Kunst und Medizin» präsentierten Film «Die Entspannung» geht es um die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS), von der die Künstlerin selbst betroffen ist. MS ist eine chronische, entzündliche und bislang nicht heilbare Erkrankung des zentralen Nervensystems. Viele Menschen sind von ihr betroffen, aber nur wenige sprechen offen darüber. Gleichzeitig gelangen der Forschung im letzten Jahrzehnt grosse therapeutische Durchbrüche, beispielsweise mit der Immuntransplantation. In diesem Film, der skurril, fiktional, tragikomisch und zugleich tiefgründig anmutet, ist diese Krankheit Hauptprotagonistin, ohne dass sie als MS direkt benannt wird. Die Kamera folgt verschiedenen Personen, die sich gegenseitig ablösen, jede Figur charakterisiert eine der vielfältigen Charakteristiken dieses Kosmos: die Patientin, der Arzt, die Sensomotorik oder auf feinstofflicher Ebene die die Nervenzellen umschliessende Myelinmembran. Anhand von Robert Carswells pathologischen Zeichnungen aus dem Jahr 1838 wird auch ein Exkurs in die Medizingeschichte gemacht. Der Pathologe Robert Carswell und der Anatom Jean Cruveilhier waren die ersten, die praktisch zeitgleich, aber unabhängig voneinander die für MS typischen Läsionen des zentralen Nervensystems beschrieben und illustriert haben.

Eine glückliche Fügung führte dazu, dass die Berliner Regisseurin und Produzentin Nicola Graef das Kunsthaus 2021 wegen ihres Dokumentarfilms über Krankheit in der Kunst kontaktierte und sich nach der Ausstellung «Take Care» erkundigte, worauf der Kontakt zu der Kuratorin Cathérine Hug hergestellt wurde. Im Austausch über die jeweiligen Konzepte wurde schnell klar, dass eine Zusammenarbeit zwischen Graef und Hug produktiv zu werden versprach, und so wurde die Regisseurin durch die Kuratorin mit der Künstlerin bekannt gemacht. In ihrem Feature «Kranke Körper, verletzte Seelen» (SWR / Arte und Lona Media, 2021/22, 52 Min.) 1 wird Spierenburg (neben Koryphäen wie Siri Hustvedt, Yayoi Kusama, Ai Weiwei oder auch Hannah Wilke) in ihrem Leben als chronisch kranke Künstlerin und insbesondere bei der Produktion ihres Films «Die Entspannung» begleitet. Spierenburg sagt dort: «Für mich ist es sehr wichtig, dass es auf der sinnlichen Ebene stattfindet, und natürlich ist dieser Film auch eine Verarbeitung dieser Krankheit». Spierenburgs «Die Entspannung» mag eine Reflexion über das eigene Schicksal sein. Dieser Film ist aber auch Ausdruck davon, wie bislang viel zu selten vorkommende Bilder von Schmerz und ihrer Sichtbarmachung, Behandlung oder Linderung, die damit verknüpfte existenzielle Not, aber auch die daraus entspringende Kraft, aussehen können.

Spierenburg lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte an der Schule für Gestaltung Basel, an der Gerrit Rietveld Academy in Amsterdam und an der Central Saint Martins in London. Wiederkehrende Themen in ihrem Œuvre sind das Wechselverhältnis von Mensch und Gesellschaft oder auch die formalen Qualitäten von Alltagsgegenständen. Mit «Die Entspannung» haben wir es mit dem ersten Kunstfilm der Kunstgeschichte über MS zu tun, und es wird hoffentlich nicht der letzte sein, denn zu viele Themen rund um den Körper werden zwar medizinisch erforscht, aber bleiben auf kultureller Ebene unan- und unausgesprochen. Warum das so wichtig ist, bringt Bárbara Rodríguez Muñoz 2020 im Referenzbuch «Heath» auf den Punkt: «Krankheit ist eine Konstante in unserem Leben […] auch wenn diese Konstante immer wieder durch den Hochglanz unseres Wellness-Kults mundtot gemacht wird […] so verlangen Künstler:innen nach Existenzberechtigung jenseits eines ‹state of health as norm›.» 2

Cathérine Hug

1Die Erstpräsentation fand am 28.4.2022 am Kunsthaus Zürich statt, im Rahmen der Ausstellung «Take Care» (8.4.–17.7.2022). Ausstrahlungen am 29.5.2022 und am 8.6.2022 auf Arte, SRF1.
2Bárbara Rodríguez Muñoz (Hrsg.), HEALTH: Documents of Contemporary Art, London /Cambridge 2020, S. 12 –13.

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