FROH ZU SEIN BEDARF ES WENIG …, 1981<br>BELIEBTE FUSSSPUREN: YETI, 1981

Peter Fischli / David Weiss
FROH ZU SEIN BEDARF ES WENIG …, 1981
BELIEBTE FUSSSPUREN: YETI, 1981

Gibt es ein Kunstwerk, «das» Kunstwerk, welches uns die Welt zu erklären vermag? Das universelle Kunstwerk sozusagen? Und was ist mit «universell» überhaupt gemeint? Während zahlreiche Kunstwerke Geschichten spezifischer Lebenswirklichkeiten erzählen – häufig jene ihrer Schöpferinnen oder Schöpfer selbst –, geht die Werkserie «Plötzlich diese Übersicht» (1981–2012), aus der auch «Froh zu sein bedarf es wenig …» sowie «Beliebte Fussspuren: Yeti» (beide 1981) stammen, aufs Ganze. Das mehrteilige Langzeitprojekt ist aber, wie die Welt selbst, kein starres Gebilde. Es hat sich über 31 Jahre hinweg kontinuierlich weiterentwickelt, vereint rund 205 in Ton modellierte Plastiken und wurde immer wieder in unterschiedlichen Zusammensetzungen und Konstellationen gezeigt. Es sind keine ephemere, sondern handfeste Objekte, die sowohl eine konstante wie auch eine variable Komponente haben. «Plötzlich diese Übersicht» kann als künstlerischer Ausdruck des Konzepts einer «offenen Gesellschaft» 1 gelesen werden, die auf den Werten des Humanitarismus, des Egalitarismus und der politischen Freiheit in einer Welt im Wandel basiert. Zur Offenheit der Werkinterpretation hat sich Peter Fischli so ausgedrückt: «So hat jede Kunst in der Zeit, in der sie gerade rezipiert wird, ihren besonderen Auftragscharakter, und jede Ausstellung, die gemacht wird, muss eine zeitgemässe, neue Lesart des Werks ermöglichen. Die Kriterien für eine erforderliche neue Lesart können sich aber immer nur aus der Gegenwart ergeben.»2

Peter Fischli /David Weiss
Froh zu sein bedarf es wenig …, 1981

Als «Froh zu sein bedarf es wenig …» von Dezember 1981 bis Januar 1982 mit 179 weiteren Tonskulpturen erstmals einer grösseren Öffentlichkeit in Zürich vorgestellt wird, macht es im Ausstellungskatalog den Auftakt der gesamten Bildstrecke mit einem bemerkenswerten Gedanken nach den Auslassungspunkten: «und wer froh ist, ist ein König».3 In der vermeintlichen Behauptung, die Welt, ihre Zivilisationsgeschichte, die Gültigkeit binärer Ordnungen und vieles mehr erklären zu wollen, liegt aber die eigentliche Provokation, denn die Unmöglichkeit dieses Vorhabens wird sofort manifest. Es handelt sich um eine bewusst gewählte «antitheoretische Haltung» der Künstler zu Zeiten, als die Kunstwelt «von einem dekonstruktiven, poststrukturalistischen, postmodernen Denken bestimmt» war.4 Peter Fischli und David Weiss beschrieben die übergeordnete Dimension ihres Langzeitprojekts im vollen Bewusstsein der Stärke seines offenen Charakters rückblickend wie folgt: «Uns schwebte eine grosse Ansammlung vor ohne Hierarchie zwischen Persönlichem und Allgemeinem, zwischen Fakten und Fiktionen, zwischen Wissen und Spekulationen und dergleichen. Aufgrund dieser Vorgaben entschieden wir uns, mit Ton zu arbeiten; er ist weich, geschmeidig, geduldig, nicht teuer und einfach in der Handhabung.»5

In der heutigen Welt globaler Vernetzung bei gleichzeitiger Vereinzelung und Rückzug ins Private übt dieses Kunstwerk grosse Faszination auf die Betrachtenden aus, denn es lädt uns ein, auf persönliche Weise über Geschichten nachzudenken, die die ganze Gesellschaft etwas angehen, und Brücken zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu schlagen. Oder wie Hannah Höch in ähnlicher Weise ermutigend fordert, über den eigenen Tellerrand zu schauen: «ich möchte […] den hinweis formen, daß es außer deiner und meiner anschauung und meinung, noch millionen und abermillionen b e r e c h t i g t e r anderer anschauungen gibt. am liebsten würde die welt heute demonstrieren, wie sie eine biene, und morgen, wie der mond sie sieht, und dann, wie viele andere geschöpfe sie sehen mögen. bin aber ein mensch, kann kraft meiner fantasie – wie gebunden auch – brücke sein.»6

Cathérine Hug

1Der Begriff wurde von Henri Bergson geprägt und von Karl Raimund Popper weiterent- wickelt, siehe Karl R. Popper, The Open Society and Its Enemies, London 1945.
2Peter Fischli im Gespräch mit Cathérine Hug in: Francis Picabia. Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich / Museum of Modern Art, New York, Zürich / New York 2016, S. 304.
3Peter Fischli und David Weiss, Plötzlich diese Übersicht, Ausst.-Kat. Galerie & Edition Stähli, Zürich 1981, unpaginiert.
4Nancy Spector, «Tonskulpturen: Plötzlich diese Übersicht», in: Bice Curiger, Peter Fischli und David Weiss (Hg.), Fragen & Blumen, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 2006, S. 128.
5Peter Fischli und David Weiss, Plötzlich diese Übersicht, Ausst.-Kat. Laurenz-Stiftung, Schaulager, Münchenstein, Köln 2015, letzte Seite (unpaginiert).
6Hannah Höch (1949) in: Karoline Hille und Inge Herold (Hg.), Hannah Höch. Revolutionärin der Kunst. Das Werk nach 1945, Ausst.-Kat. Kunsthalle Mannheim / Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Berlin 2016, S. 101.

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