LE GRAND INTÉRIEUR AUX SIX PERSONNAGES <br>(ÉTUDE)

Edouard Vuillard
LE GRAND INTÉRIEUR AUX SIX PERSONNAGES
(ÉTUDE), 1897

Diese Ölskizze ist eine Studie zu Edouard Vuillards im gleichen Jahr entstandenen, grossformatigen Hauptwerk «Le Grand Intérieur aux six personnages» (ebenfalls Kunsthaus Zürich). Laut Guy Cogeval zeugt Vuillards fertiges Gemälde von der Ehekrise von Vuillards Schwester Marie und ihrem Mann Kerr-Xavier Roussel, der ein Verhältnis zu Germaine Rousseau unterhielt.1

Mit seiner Malweise klärt Vuillard diese komplizierte Geschichte in seinem Bild aber nicht; vielmehr wird die Narration in ein komplexes Gewebe textiler Muster, räumlicher Kontorsionen und lediglich angedeuteter psychologischer Konstellationen eingefügt. In der frei angelegten Ölskizze ist die inhaltliche Dimension noch stärker der Struktur der auf der Bildfläche entwickelten farblichen Gestaltung untergeordnet.

Bild und Ölskizze Vuillards illustrieren perfekt die Anliegen der Nabis, die unter dem Einfluss einer neuen – stark vom bretonischen Werk Gauguins geprägten – Kunstauffassung standen. Neu sollte Kunst mit ihren formalen Elementen dem Ausdruck der Idee dienen und daher symbolistisch sein, zudem auch synthetisch, subjektiv – und dekorativ. Die Realität, der Illusionismus und das Trompe-l’œil waren jedoch aus der Kunst zu verbannen.2

Vuillard schenkte seine grosse Komposition 1898 seinem Künstlerfreund Félix Vallotton, der von 1892 bis 1899 selber zu den Nabis gehörte, dabei aber eine eigene Position beibehielt und dem flockigen Kolorismus Vuillards und Bonnards klar konturierte Flächen vorzog (wie sie auch seine druckgrafischen Werke stark prägen). Sehr schön zeigen dies zwei gemalte Intérieurs Vallottons von 1898, in denen Vuillards grosses Bild zu sehen ist: «Femme en robe violette sous la lampe» sowie «La chambre rouge» (wo Vuillards Bild im Spiegel, aber nicht seitenverkehrt zu sehen ist).3 Vallotton entzieht Vuillards Komposition in seinen beiden Bildern die malerische «peinture» des Originals. Er nähert das Gemälde des Freundes seiner eigenen, weit mehr von klaren Umrissen bestimmten Malweise an, wie er sie auf seinen beiden Bildern für die Schilderung der Innenräume verwendet, in denen er Vuillards Werk auftauchen lässt. Während bei Vuillard inhaltliche Narration jeweils nur so weit geht, wie sein flockiger Kolorismus diese tragen kann, ist Vallottons Nabis-Kunst also umgekehrt Narration ohne «peinture». In Vuillards Skizze und Gemälde noch ganz atmosphärisch gestaltet, wird die Komposition in ­Vallottons verfremdenden Zitierungen dabei in ein kühleres, nun vollends modernes Idiom übersetzt.

Philippe Büttner

1Antoine Salomon et Guy Cogeval, Vuillard. Le regard innombrable. Catalogue critique des peintures et pastels, Paris 2003, Bd. I, Nr. IV–214 (Skizze) und IV–215 (Gemälde), S. 346–349. Zu Vuillard insgesamt siehe zuletzt: Édouard Vuillard 1868–1940; hg. von Dieter Schwarz, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur, Winterthur 2014.
2Siehe Gabriel-Albert Aurier, «Le symbolisme en peinture: Paul Gauguin», in: Mercure de France, Bd. II, Nr. 15, Paris, März 1891, S. 155–165, hier S. 162 f.
3Guy Cogeval, wie Anm. 1, S. 347, zufolge hat Vallotton im erstgenannten Bild einen ersten Zustand von Vuillards Bild gezeigt, den dieser in der zweiten Fassung noch abgemildert hätte.

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